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Wege zur Verständigung in der Bewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus

Christoph Strawe, Autoreferat

Die Tatsache, dass sich in Stuttgart so viele Menschen, die für die Dreigliederung aktiv bzw. an ihr interessiert sind, zusammengefunden haben, zeugt von dem Willen, den Dialog und die Zusammenarbeit unter uns zu vertiefen. Das Forum 3 ist, wie unser Moderator Ulrich Morgenthaler in seiner Begrüßung ausführte, „aus dem Gespräch entstanden" und bietet einen optimalen Rahmen für unsere Arbeit.

Der Titel „Offene Fragen sozialer Dreigliederung" hat eine dreifache Stoßrichtung: Es geht erstens darum, der sozialen Not der Gegenwart, den offenen Problemen der Weltgesellschaft, zu begegnen, die mit einem immer größer werdenden Bedarf an sozialer Dreigliederung zusammenhängen. Es geht zweitens darum, mit offenen Fragen — Erkenntnisfragen und Kontroversen im Ringen um Dreigliederung umzugehen. Und es geht drittens darum, eine ergebnisoffene und dialogische Form der Bearbeitung dieser offenen Fragen unter uns zu entwickeln.

100 Jahre Dreigliederung

Es gibt Veranstaltungen, die im zeitlichen Kontext, in dem sie stehen, unter anderen herausragen. Dies war 1989 bei der Stuttgarter „Novembertagung" der Fall, die 200 Jahre nach der Französischen Revo-lution und 70 Jahre nach der Volksbewegung für die soziale Dreigliederung 1919 auf dem Höhepunkt der Umbruchbewegung in Europa stattfand. Am Rande dieser Tagung gründete sich die Initiative Netzwerk Dreigliederung, die jetzt auf 25 Jahre Wirkenszeit zurückblicken kann. Eine ganze Reihe derer, die hier anwesend sind, ist damals dabei gewesen.

Heute stehen wir wieder vor Jahrestagen: 100 Jahre Dreigliederungsmemoranden (1917), 100 Jahre Volksbewegung für die Dreigliederung (1919). 1989 war mein Eindruck: Solche Jahrestage müssen zu neuen Impulsen für die Sache führen, es dürfen nicht bloß Gedächtnis- und Festreden gehalten werden. Daher die Netzwerkinitiative. Gewiss haben viele wie ich damals die Hoffnung gehegt, dass die Dreigliederungsaktivitäten stärker anwachsen würden, als das tatsächlich der Fall war, trotz all dem, was getan wurde. Oft blieb der Eindruck: Vielstimmig, aber nicht immer harmonisch, lebhaftkontrovers, aber nicht immer dialogisch. Das Echo auf unsere Einladung zeigt, dass der Impuls zur Verständigung über offene Fragen und zur Zusammenarbeit „strö-mungsübergreifend" bei uns vorhanden ist.

Auch heute gilt wieder, dass neue Impulse die beste Art sind, die bevorstehenden Jahrestage zu begehen. Sie sind ein Anlass zu einer Selbstprüfung, dazu, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wo wir mit der sozialen Dreigliederung stehen und zu fragen: Was müssen wir in den nächsten Jahren tun, damit dieser Impuls stärker werden kann? Die Rück-besinnung auf die Dreigliederungsbewegung 1917 — 1922 sollte daher nicht zuletzt der Frage gelten, was wir für heute aus ihr lernen können.

Dreigliederung und Erster Weltkrieg

In diesem Jahr gedachte die Öffentlichkeit an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. Viele der Dreigliederungsinitiativen R. Steiners hängen ja mit diesem Weltkrieg, seinem Ausbruch und seinem Ende zusammen. Der 1. Weltkrieg wiederum hängt mit unseligen Verquickungen zwischen Politik und Ökonomie, zwischen Kultur und Politik, zwi-schen Ökonomie und Kultur, d.h. mit einem Mangel an Dreigliederung zusammen. Diese Verquickungen konnten nicht aufgelöst werden und schufen Konfliktherde, die zum Ausbruch dieses Krieges führten.

Im Rückblick zeigt sich, dass vieles von dem, was R. Steiner damals unternahm, an Aktualität noch gewonnen hat. Viele Probleme, auf die der Dreigliederungsansatz der Versuch einer Antwort war, wurden nicht gelöst, sondern spitzten sich im Gegenteil noch zu: Sie luden sich mit neuem Konfliktstoff auf, zumal neue Probleme hinzukamen. Und schon damals aufgezeigte problematische Grundtenden­zen gesellschaftlicher Entwicklung haben sich noch verstärkt.

Eckpunkte und Entwicklungsschritte der sozialen Dreigliederung

R. Steiner wies schon vor der eigentlichen Dreiglie­derungsbewegung auf solche Grundtendenzen hin So konstatiert er in den beiden Aufsätzen von 1898 „Die soziale Frage" und „Freiheit und Gesellschaft"' die Tatsache zunehmender Individualisierung als geschichtliche Tendenz und stellt die Frage, wie unter dieser Bedingung Staat und Gesellschaft sich verändern müssen, um der Mündigkeit und Freiheit des Einzelnen gerecht werden zu können. Denn das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft kehre sich gegenüber der alten Gemeinschaft, der sich der Einzelne unterzuordnen hatte, um. Der Einzelne tritt in den Mittelpunkt und die Gemeinschaft muss für ihn da sein und für seine Entwicklung Raum schaffen.

Die Aufsätze „Geisteswissenschaft und soziale Frage" von 1905/06 ergänzen dieses Bild: Hier richtet Steiner seinen Blick auf den anderen Pol des sozialen Geschehens und stellt fest, dass wir ja nicht nur in einem Zeitalter der Individualisierung leben, sondern auch in einem Zeitalter der Herausbildung globaler Strukturen in der \Nirtschaft. Er fragt nun: Wie muss sich die Gesellschaft angesichts dieser wirtschaftlichen Vernetzung verändern, wie muss sie der Tatsache Rechnung tragen, dass wir alle miteinander zusammenhängen und zunehmend füreinander verantwortlich sind — durch die Preise, die wir zahlen, und durch die Art und Weise, wie wir arbeiten und wirtschaften?

Damit setzt Steiner Eckpunkte und benennt die drei großen Fragenkomplexe, mit denen die soziale Dreigliederung seit jeher zu tun hat. Das entfaltet er dann weiter und gestaltet es aus in den Versuchen, praktisch in die Verhältnisse einzugreifen. Dies geschieht zunächst mit den Memoranden von 1917, in denen die soziale Dreigliederung als ein mitteleuropäisches Friedensprogramm auftritt. Ange­sichts der bestehenden Völker- und Gruppenkonflikte fragt er, was geschehen müsse, damit Menschen verschiedener Ethnien, Religionen usw. friedlich miteinander koexistieren können: Zuerst müsse man den Einzelnen befreien, ihm umfassende kulturelle Autonomie ermöglichen, damit befreie man auch die Völker. Der umgekehrte Weg könne nur zu neuen Konflikten und Kriegen führen. Wer die Losung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen im Rahmen von Forderungen für eine Friedensordnung obenan stelle, setze das Recht von Kollektivsubjekten auf den eigenen Staat über das individuelle Menschenrecht und die Freiheit des Einzelnen, womit Unterdrückung von Minderheiten vorprogrammiert sei.

An den Konflikten der Gegenwart zeigt sich die Aktualität sozialer Dreigliederung...

Das alles ist unglaublich aktuell. „Der Nationalstaat muss sterben" lautete jüngst die Überschrift eines Aufsatzes in Spiegel online, in dem genau das ausgeführt wird: dass die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Nationen als Instrument des Unfriedens willkürlich benutzt wurde und wird. Dieses Thema ist in der Ukraine, im israelisch-paläs­tinensischen Konflikt, in Syrien und im Irak gleicher­maßen aktuell: überall da, wo staatliche Strukturen benutzt werden für national-kulturelle, ethnische bzw. religiöse Ziele und Interessen.

Nach der Novemberrevolution kommt es 1919 zur großen Volksbewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus. Sie wird eingeleitet durch Steiners „Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt", in dem es heißt, Aufgabe der Zeit sei es, soziale Verhältnisse mit Bewusstsein zu durchdringen und zu gestalten. Wenn wir es heute mit vielen der bereits genannten Probleme zu tun haben, hängt das mit diesen Gestaltungsdefiziten zusammen — deren Folgeerscheinungen immens sind und immer weiter um sich greifen.

Es ist tragisch, dass eine Bewegung, die gesellschaft­liche Gliederung als ihre Aufgabe sieht, angesichts dieser Konflikte nicht massiv zugenommen hat und wirkungskräftiger geworden ist. Dennoch ist es nicht so, wie manche meinen, dass alles scheiterte und nichts geschah. Eine genauere Untersuchung der Wirkungsgeschichte der Dreigliederung nach 1945 etwa zeigt, an wie vielen Stellen Dreigliederungs­aktivitäten in der Gesellschaft bleibende Spuren hinterlassen haben.2

Neue Schübe von Dreigliederungsaktivitäten gab es 1968, 1989 und 1999. Der erste steht im Zu­sammenhang mit dem Prager Frühling und der 68er Bewegung. Stichworte wie Achberg, Joseph Beuys, die Entstehung der Bewegung für die drei­stufige Volksgesetzgebung sind zu nennen. Auch die Gründung der Grünen ist ohne diese Ansätze schwer denkbar.

Der zweite Schub hängt mit der Umbruchbewe­gung in Ost- und Ostmitteleuropa zusammen, mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen den vormundschaftlichen Staat, über den Rolf Henrich, Mitbegründer des Neuen Forums in der DDR und Gast der eingangs erwähnten Stuttgarter Novembertagung, damals schrieb.' Er brachte auf den Punkt, was in der Bewegung unterschwellig als Dreigliederungsmotiv lebte: Man wollte den Staat aus dem Kulturleben, das er unterdrückte, heraus­lösen, ebenso aus dem Wirtschaftsleben, das er planbürokratisch einengte, wollte diese Bereiche auf ihre eigenen Füße stellen und den totalitären Staat in eine demokratischen verwandeln, in dem Recht ist, was mündige Bürger untereinander vereinbaren.

Der dritte Schub wurde nicht durch einen Übergriff des Staates veranlasst, sondern durch die Übergrif­figkeit einer profitorientierten globalen Ökonomie, welche die Demokratie bedrohte und die Diversität der Kultur zerstörte. So empfanden es die zivilgesell­schaftlichen Akteure, die 1999 in der „battle of Se­attle" eine Konferenz der Welthandelsorganisation WTO zum Scheitern brachten. Zum ersten Mal trat eine dritte Kraft auf der Weltbühne in Erscheinung, die globale Zivilgesellschaft. Ihren Dreigliederungs­bezug brachte der spätere Träger des Alternativen Nobelpreises Nicanor Perlas in seinem Buch „Die Globalisierung gestalten — Zivilgesellschaft, Kulturkraft und Dreigliederung"' auf den Punkt: Diese Bewegung sei eine soziale Kulturkraft, die sich von der faktischen zur bewussten und zur fortgeschrittenen Dreigliederung hinbewegen müsse. Das Auftreten von Perlas bei uns brachte Impulse zur globalen Vernetzung unter den Dreigliederern und führte dazu, dass viele Freunde in der Zivilgesellschaft aktiv wurden und einige auch an Weltsozialforen teilnahmen.

Woran arbeiten?

Kann es einen neuen Schub geben? Wie könnte er aussehen? Woran muss gearbeitet werden, um die Bewegung zu stärken, Schwächen zu überwinden, Kräfte zu bündeln und mehr Resonanz zu erzielen?

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Verstän­digung untereinander. Hier ist sicher bereits eine Menge erreicht worden, aber es gibt nach dem Eindruck vieler auch noch „Luft nach oben". Es ist naheliegend, bei diesem Thema zunächst an eine in­haltliche Verständigung über kontroverse Fragen zu denken. Vielleicht wäre es aber noch viel wichtiger, sich über die Ebene zu verständigen, auf der man sich mit den Inhalten befassen sollte. „Wie schön wäre es doch, wenn wir uns alle in allem einig wä­ren." Ein solcher Wunsch ist verständlich. Aber müs­sen wir uns wirklich in allem einig sein? Und wenn nicht in allem, worin dann? Die Gegenüberstellung von inhaltlich unterschiedlichen Positionen allein ist noch keine fruchtbare Auseinandersetzung. Sie führt als solche noch nicht zu einem Erkenntnisgewinn. Im besten Fall führt sie zu mehr Transparenz und damit zur Überwindung von unnötiger Konfrontation und vielleicht noch zum Auffinden von Gemeinsam­keiten im Sinne von Schnittmengen. Eine wirkliche Überwindung von Gegensätzen erfolgt so nicht.

Diese erfordert das Ringen um eine höhere Einheit der Gegensätze, ihre Aufhebung im dreifachen Hegel'schen Sinn: aufheben, aufbewahren, auf eine höhere Stufe heben.

Auseinandersetzungen auf der Ebene der Inhalte wurden vielfach mithilfe von Zitaten geführt, oftmals unter Berufung auf die Autorität R. Steiners. Das gibt es zwar immer noch hier und da, kommt aber glücklicherweise aus der Mode. Man übersah dabei auch die Kontextabhängigkeit von Äußerungen, unterschied nicht, was wesentlich oder unwesentlich ist, was auf einen bestimmten eingegrenzten Zeit­raum oder auf ganze historische Epochen gemünzt war, was Frucht geistiger Forschung oder aus der Zeitung entnommen war', was nur ein Aspekt des Dargestellten war, der mit andernorts behandelten unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Aspekten zusammenzusehen war. Auf diese Weise fand man immer etwas, was die eigene Auffassung schein­bar stützte und als Waffe gegen die Sichtweise anderer dienen konnte — sodass unter dem Deckmantel höchster Werktreue die Gesamtausgabe als „Selbstbedienungsladen" missbraucht wurde. Ich wende mich natürlich nicht gegen das Zitieren an sich, sondern gegen einen unfruchtbaren Umgang mit Texten, der uns in der eigenen Erkenntnis nicht weiterbringt und — was besonders schwer wiegt — uns auch nicht handlungsfähiger macht.

Besonders bedenklich wurde das an Stellen, wo einzelne Beispiele für mögliche Lösungen aus der Dreigliederung zu allgemeingültigen Regeln und Grundsätzen hochstilisiert wurden.

Auf dieses Missverständnis macht Steiner selber mit großer Deutlichkeit aufmerksam in einem Vortrag vom 30. November 1921, in dem er darlegt, wie sein Buch „Die Kernpunkte der sozialen Frage" nicht aus theoretischen Erwägungen, sondern aus Lebens­erfahrung heraus entstanden sei, die er dann habe zusammenfassen müssen in allgemeinen Sätzen, „die dann wiederum ihrerseits zusammengestellt sind in den Schlagworten ,Dreigliederung des so­zialen Organismus'. Aber was da drinnen ist, das musste doch durch einige Richtlinien wenigstens exemplifiziert werden. Man musste sagen, wie man sich denkt, dass die Dinge in die Hand genommen werden sollen. Deshalb habe ich einige Beispiele gegeben, wie die Entwickelung des Kapitalismus weiter fortschreiten soll, wie etwa die Arbeiterfrage zu regeln ist und so weiter. Da habe ich versucht, konkrete, einzelne Andeutungen zu geben. Nun, ich habe viele Diskussionen mitgemacht über diese ,Kernpunkte der sozialen Frage', und ich habe stets gefunden, dass die Menschen in ihrer utopistischen Meinung von heute immer fragen: Ja, wie wird denn in der Zukunft das oder jenes sein? — Sie haben sich dabei gestützt auf die Andeutungen, die ich über das einzelne gegeben habe, was ich aber niemals anders gemeint habe, denn als Beispiel. Im ganzen konkreten Leben ist es ja so, dass man irgendetwas, was man tut, was man nach seinem besten Wissen einrichtet, dass man das in irgendeiner Gestalt in die Wirklichkeit hineinstellen kann, dass man es aber selbstverständlich auch anders machen könnte. Die Wirklichkeit ist nicht so, dass nur ein einzelnes Theoretisches auf sie passt. Man könnte selbstver­ständlich auch alles anders machen."'

Der Text lässt erkennen, dass wir vor allem von R. Steiners grundlegenden Gesichtspunkten und methodischen Ansätzen lernen können. Man tappt in eine methodische Falle, wenn man sich über Einzelheiten streitet, die eigentlich gar nicht zu Kon­troversen führen dürften, weil man es im Einzelnen „selbstverständlich auch anders machen könnte". Es handelt sich um verschiedene Ausformungen eines Grundansatzes, nicht um Richtig oder Falsch. Streit ist hier sinnlos, wir sollten vielmehr Erfahrungen austauschen und voneinander lernen.

Wesensmerkmale sozialer Dreigliederung

Sinnvoll ist es dagegen, eine Diskussion zu führen darüber, ob und inwieweit es uns gelungen ist, den substanziellen Charakter der sozialen Drei­gliederung zu kommunizieren und auch in der Art unseres Umgangs miteinander diese Substanz sicht­bar werden zu lassen. Ich nenne drei solcher m.E. substanziell wichtiger Punkte:

1. Nicht die Gliederung der Gesellschaft in Subsyste­me — dieser Gedanken ist Gemeingut in weiten Teilen der Soziologie —, ist das „Alleinstellungsmerkmal" des Arbeitsansatzes der Dreigliederung des sozia­len Organismus. Das Besondere unseres Ansatzes besteht vielmehr darin, wie das Thema „Gliederung der Gesellschaft" in Verbindung gebracht wird mit der Mündigkeit des Menschen und der daraus resultierenden Frage, wie diese Subsysteme miteinander verbunden sein müssen, damit Menschen ihre sozialen Verhältnisse selbst gestalten können.

Die Dreigliederung ist so betrachtet gar keine inhalt­liche Lösung der sozialen Frage, kein Programm, das sagt, dieses soll so und jenes so sein. Vielmehr beschreibt sie die Strukturen einer Gesellschaft von mündigen Menschen. Sie ist ein Ansatz, um die Bedingungen für die Gestaltbarkeit des sozialen Organismus durch die Menschen herzustellen. Die Inhalte entstehen erst im Zuge dieses Gestaltungs­prozesses, denn das soziale Leben darf heute nicht mehr von oben gelenkt und geleitet werden. Die Dreigliederung des sozialen Organismus ist quasi die soziale Konsequenz aus der individuellen Mün­digkeit. Das ist ein ganz zentraler Punkt, aus dem sich vieles Weitere ergibt...

2....wie z.B., dass die Dreigliederung selbst einen dialogischen Charakter hat, der mit den Kommuni­kationsbedürfnissen mündiger Menschen zusammen­hängt. Die angestrebten sozialen Strukturen werden als Räume der Begegnung, der Verständigung in wirtschaftlichen Assoziationen, der kollegialen Füh­rung, des demokratischen Diskurses beschrieben, die es ermöglichen, dass die Beteiligten ihre Verhältnisse selbst ordnen. Immer geht es um Begegnungsformen, Dialogformen und um Räume, in denen soziale Fähigkeiten reifen und Verantwortungsbewusstsein sich entwickeln kann.

Ein altes Argument gegen die Dreigliederung und die ihr zugrunde liegende Freiheitsphilosophie lautet, in dieser Bewegung werde nur mit Engeln gerechnet, nicht mit richtigen Menschen und ihren Fehlern und Schwächen. Nun sagt R. Steiner 1918, dass ein erster wichtiger Schritt in der Sozialwissenschaft sei, sich einzugestehen, dass der Mensch sowohl ein soziales als auch ein antisoziales Wesen sei.' Und im gleichen Zusammenhang sagt er sinngemäß, es müssten soziale Institutionen geschaffen werden, an denen der Egoismus anstoßen und sich korrigieren könne,' Organe also, in denen ein Interessenaus­gleich stattfinden kann, nicht aber solche, in denen Egoismus und Eigeninteresse „vor der Eingangstür abgegeben werden". Die Beteiligten bringen ihre Egoismen mit und bearbeiten sie in der Begegnung, durch welche sie den eigenen Interessenstandpunkt im Hinblick auf den der Partner zu relativieren lernen.

3. Zentral ist auch, sich klarzumachen, dass soziale Dreigliederung ein lebendiges, bewegliches Denken erfordert. Eine Art „Bildbegrifflichkeit" ist dafür aus­zubilden. R. Steiner spricht immer wieder darüber, dass für das Begreifen des Sozialen neue Erkennt­nismöglichkeiten zu erschließen seien. Der Sozial­wissenschaftler stehe anders zu seinem Gegenstand als der Naturwissenschaftler. Er müsse bildlich ge­sprochen eigentlich „in die Retorte hineinsteigen", weil man im Sozialen immer drinsteckt und die Art und Weise, wie man über das Soziale reflektiert, selbst in ihm zur wirkenden Kraft wird .9 Nur zu oft bleibt das unreflektiert.

Beim Versuch, das soziale Geschehen angemessen zu begreifen, kommt im Übrigen das Einzelurteil an seine Grenzen. Gerade gegenüber wirtschaftlichen Fragen reicht es nicht aus — hier kommt man, auf sich allein gestellt, zu einem falschen Urteil,10 weil ein einzelner in einer arbeitsteiligen Ökonomie gar nicht das nötige Wahrnehmungsfeld für eine entsprechende Urteilsbildung hat. Die Erfahrungen der Repräsentanten von Produktion, Zirkulation und Endverbrauch müssen zusammenfließen, damit auf dieser Grundlage soziale Urteile gefällt und Verein­barungen getroffen werden können. Nur so kann „objektiver Gemeinsinn" entstehen.

Das WAS bedenke, mehr bedenke WIE...

Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir erkennen: Im Gespräch über offene Erkenntnisfragen der Dreigliederung ist das WAS zwar wichtig, aber das WIE ist vielleicht noch wichtiger. Wir müssen einen sozialen Weg finden, die offenen Erkenntnis­probleme miteinander zu bearbeiten. Was kann das im Einzelnen heißen? Welche Fragen tauchen auf?

  1. Methodenbewusstsein und Selbstreflexion — Wie werden Debatten fruchtbar?

    Inhalt und Methode sind aufeinander bezogen und hängen insofern untrennbar zusammen. Aber es ist ein Unterschied, ob ich die Art und Weise, in der ich Inhalte be­wege, bewusst handhabe oder nicht. Die bewusste Handhabung ermöglicht die Selbstreflexion eigener Standpunkte und damit auch deren Relativierung: Erst wenn ich so die Möglichkeit finde, mich in die Standpunkte anderer hineinzudenken, kann ich Ver­ständnis dafür entwickeln, aus welchen Gründen dieser oder jener Standpunkt eingenommen wird.

Das Problem ist ja nicht, dass überhaupt Kontrover­sen auftreten. Das Problem ist vielfach, dass dabei die Positionen der oder des anderen mehr oder weniger ignoriert werden. Als Redakteur der Zeit­schrift „Sozialimpulse" habe ich öfters das Problem, dass mir Artikel angeboten werden, die eine Art Monolog darstellen, sei es pro oder contra Grundeinkommen oder was auch immer. Wodurch soll ein Erkenntnisgewinn entstehen, wenn ein Beitrag nicht anknüpft an Diskussionen, die schon im Heft geführt wurden? Es wäre überaus wünschenswert, wenn wir anfangen würden, uns aufeinander zu beziehen und aufeinander einzugehen! Erst wenn man die Einwände des anderen wirklich zur Kennt­nis genommen hat, kann man begründen, warum man das Ganze anders sieht. Zu oft erlebt man aber, dass Einwände schlicht ignoriert werden, dass keinerlei Bezug darauf genommen wird. Das kann natürlich nicht zu einem Erkenntnisfortschritt durch Einbeziehung der Aspekte und Einwände anderer führen. Es war eine gute Methode in der Scholastik, zunächst die Argumente des Debattengegners zu wiederholen und damit zu signalisieren, dass man sie verstanden hatte, ehe man die eigenen darstellte.

2. Voraussetzung für Verständnis ist die Vermeidung von Missverständnissen.

„Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe."" Was meint der andere mit dem Wort, das er benutzt? Die Unklar­heit darüber ist eine Quelle zahlreicher Missver­ständnisse. Durch die Klärung dieser Frage löst bzw. relativiert sich vieles.

Ich greife ein Beispiel aus meiner Arbeit als Redak­teur heraus. Viele von Ihnen werden die Artikel unse­res Autors Roland Benedikter kennen und schätzen. Benedikter hat nun einmal die These vertreten, wir müssten die Dreigliederung zu einer sieben Aspekte einschließenden Betrachtung erweitern. Diskurs-typologisch und systemlogisch gehe es heute um die Kerndimensionen von Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Technologie und Demografie. Einige Leser fanden das toll, andere protestierten, damit werde der Dreigliederungsansatz nicht ergänzt, sondern verlassen. Die Frage, wie das Verhältnis von Kultur und Religion zu denken ist, und ob die Ökologie nicht eine weitere Kerndimension darstellt, klammere ich hier einmal aus. Es erscheint mir unbestreitbar, dass Technologie, Demografie usw. heute ungeheu­er wichtige Dimensionen der sozialen Frage dar­stellen. Aber handelt es sich bei Technologie und Demografie um Glieder des sozialen Organismus? Wäre jetzt nicht erst einmal zu klären, ob es sinn­voll und notwendig ist, zwischen den Dimensionen der sozialen Frage und den Gliedern des sozialen Organismus zu unterscheiden?

Wenn man diese
Unterscheidung für notwendig hält, entsteht daraus eine neue potenziell fruchtbare Fragestellung: Wie wirkt sich die Entstehung neuer Dimensionen der sozialen Frage auf die Gestaltungsnotwendigkeiten und das Verhältnis der Glieder des sozialen Orga­nismus aus? Ich will das hier gar nicht beantworten, sondern nur eine Möglichkeit aufzeigen, wie man einen scheinbar unlösbaren Widerspruch konstruk­tiv angehen kann.

Verständigung erfordert immer auch Übersetzungs­arbeit. Unterbleibt diese, kommt es zur Abschottung von In-Groups, die eine eigene, andern unverständ­liche Sprache entwickeln.

Das gilt innerhalb der Dreigliederungsszene wie auch in ihrem Verhältnis zur weiteren Offentlichkeit und besonders gegen­über der akademischen Welt. Wie wird unser Dis­kurs „anschlussfähig", wie trägt er zum allgemeinen sozialwissenschaftlichen Diskurs bei? Seit Steiner, und damit die Dreigliederung, zunehmend auch Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen wurde, ist diese Frage noch aktueller geworden.

    3. Echtes Interesse als Basis für ein fruchtbares Zusammenwirken

Ein wirkliches Gespräch basiert auf dem echten Interesse an der Sache, an der anderen Position, an dem Menschen, der sie vertritt, und an den Gründen, warum er sie vertritt. Echtes Interesse hilft uns über die bloße Koexistenz von Standpunkten hinaus. An die Stelle der Duldung des anderen Standpunkts tritt aktive Toleranz und bildet die Basis für ein frucht­bares Zusammenwirken.

    4. Entwicklung einer Fragekultur als Ausgangspunkt für Debatten

Echtes Interesse ist immer mit einer Fragehaltung verbunden. Mein Interesse an einem Thema oder einer Person veranlasst mich, Fragen zu stellen in Bezug auf den Gegenstand meines Interesses. Die Entwicklung einer Fragekultur scheint mir ein Schlüssel dafür zu sein, dass Debatten fruchtbarer werden. Alles Erkennen beginnt mit einer Frage. Wer bereits auf alles eine Antwort zu haben glaubt, wird nichts mehr erkennen und braucht auch keinen Dialogpartner mehr. Keine Fragen zu haben, ist ein Charakteristikum des Dogmatismus. In Brechts Ge­schichten vom Herrn Keuner lesen wir: ,,,Ich habe bemerkt', sagte Herr K., ,dass wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch, dass wir auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungelöst erscheinen?"'''

Ich will gewiss nicht dafür plädieren, Fragen aus Gründen der Propaganda zu erfinden. Sie ergeben sich uns schlicht, wenn wir mit offenem Blick in der Welt stehen. Die richtige Fragestellung führt uns in der Erkenntnis weiter, während falsche Fragestellungen Erkenntnisprozesse entscheidend behindern können.

Grundfragen sozialer Dreigliederungsentwicklung

Der Gedanke, dass der Kultur des Fragens eine Schlüsselrolle zukommt, ist der Grund dafür, dass wir in der Strukturierung des Kolloquiums am 11. Oktober neue Wege ausprobiert haben, von denen wir Hilfe bei der Entwicklung eines offenen Arbeitsstils erhoffen. Es wurde anhand eines offenen Fragen-katalogs gearbeitet. Er enthielt für die verschiedenen Gesprächsabschnitte Leitfragen, die wiederum in weitere Einzelfragen aufgegliedert waren. Anhand dieser Fragen konnte sich das Gespräch frei und improvisatorisch entwickeln.

Es handelte sich dabei 1. um Fragen zu Aktualität und Charakter sozialer Dreigliederung, 2. um Fragen zum Verhältnis der drei Glieder des sozialen Organismus und ihren Qualitäten, 3. um das Verhältnis von Urbildern zu konkreten Lösungen, 4. um Fragen zur Umsetzung der sozialen Dreigliederung und 5. um die Frage, wie sich die menschlich-soziale und die sozial-strukturelle Entwicklung gegenseitig bedingen.

Letztere ist vielleicht die Schlüsselfrage der Sozialentwicklung überhaupt: Dreigliederung zielt auf soziale Verhältnisse ab, in denen und an denen Menschen gleichzeitig ihre sozialen Fähigkeiten entwickeln können. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er eine automatenhaft wirkende Wohlstandsordnung erkämpfte und doch Schaden an seiner Mitmenschlichkeit nähme?


 

1 Magazin für Literatur, abgedruckt in: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887 — 1901, GA 31, Dornach 1989, S. 247 — 262.

2 Vgl. C. Strawe: Entstehungsbedingungen und Wirkungsgeschichte des Arbeitsansatzes der Dreigliederung des sozialen Organismus. In: Rahel Uhlenhoff (Hrsg.): Anthroposophie in Geschichte und Gegen­wart. Berliner Wissenschaftsverlag 2011

3 Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus. Reinbek bei Hamburg 1989

4 Info 3 Verlag Frankfurt/M 2000

5 Ein Beispiel ist eine Bemerkung in einem Vortrag vom 26. November 1922 (GA 219) über die Osterinseln, die ins Meer versunken seien, was eine damals verbreitete Zeitungsfalschmeldung war.

6 Die Kardinalfrage des Wirtschaftslebens, Oslo, in: Die Wirklichkeit der höheren Welten. GA 79, Dornach 1988, S. 242.

7 Vortrag Dornach, 6. Dezember 1918, in GA 186, Dornach 1990, S. 89.

8 A.a.O., S. 103.

9 Nationalökonomischer Kurs (1922), GA 340, Dornach 2002,S. 65f.

10 Vortrag Oxford 28. August 1922, GA 305, Darnach 1991, S. 202.

11 R. Steiner, Die Philosophie der Freiheit (1893/94), GA 4, Dornach 1995, S. 57

12 Bertolt Brecht - Geschichten von Herrn Keuner, „Überzeugende Fragen".